Zeit der Lieder
Ein heißer Vorsommertag geht langsam zu Ende. Ich sitze auf meinem
blumengeschmückten Balkon,
beschützt von meinem großen weißen
Sonnenschirm. Der letzte Rasenmäher hat endlich sein Werk vollendet.
Ganz in der Ferne höre ich die Geräusche der kleinen Stadt.
Auf dem Nachbargrundstück krähen ein paar Hähne um die Wette. Das
schönste Lied aber singt eine Amsel,
meine Amsel, weil ich sie sofort an ihren Liedern erkenne.
Seit Tagen schon ist sie am Singen. Immer wieder ertönen ihre typischen
Weisen: Sie tiriliert, flötet, aber
das Schönste jedoch ist ihr
herzerweichendes Schluchzen am Ende ihrer Serenaden. Ihr Lied ist
einfach
unverwechselbar, so dass ich sie unter 100 Amseln erkennen
würde.
Andere Amseln in der Nachbarschaft haben auch ihre typischen Weisen,
aber ihr Gesang hat längst
nicht soviele Variationen wie mein kleiner Liebling! Darin ist sie einfach unschlagbar. Ich weiß, dass nach der Brutzeit die Amseln aufhören zu singen, und dass ich traurig sein werde, wenn ihre Lieder
verstummen.
In dem Moment, wenn die kleinen Vogelbabies ihre Nester verlassen und
ihre ersten, meist tolpatschigen
Flugversuche wagen, ist die
Zeit der Lieder vorbei. Erst im nächsten Frühsommer werden die Morgen-
und Abendstunden
wieder erfüllt sein von den sehnsuchtsvollen, zärtlichen Weisen dieser
kleinen Geschöpfe, die mit solch einer Musikalität gesegnet sind. Die Natur ist voller kleiner Wunder, und der Gesang der Amseln
gehört mit dazu, gehört für mich sogar zu den erstaunlichsten.
Es geht jetzt schon auf den Abend zu, und schon wieder hat meine Amsel – nach
einer kleinen Pause -
angefangen zu singen. Hoch oben im Geäst
einer schlanken Tanne sitzt sie, unverdrossen, und flötet ein
Lied nach dem anderen.
Sie wird bis in den späten Abend da sein und ihr Konzert geben. Ich werde ihr
zuhören, so lange, bis die Nacht
sich wie ein dunkler Vorhang über das Land gesenkt hat und nur der
Mond und die Sterne ihr weißes Licht zur Erde senden.
Idar, 6. Juni 2015/update 23. April 2021
© 2015 Gisela Bradshaw
PS: In meinem kleinen
Märchen Der König der Lieder habe ich vor einiger Zeit einmal schon über
die
faszinierenden Sangeskünste von Amseln geschrieben. Es sind übrigens die Amselmännchen, die
singen, es ist eine Art von Balz, wenn sie sich um die Gunst ihrer Auserwählten ins Zeug legen.
Zu meiner kleinen Erzählung passt sehr gut das wundervolle Lied "Fields of Gold" gesungen von Sting.