«Man ist auch bei den Menschen allein«
Saint-Exupéry - Der kleine Prinz
Gedanken an einem verregneten Pfingstfest
Es ist Juni geworden, und wie der Kalender sagt, feiert das Land heute
das Pfingstfest. Ich liege noch im Bett, obwohl der Zeiger meiner Uhr,
leicht vorwurfsvoll, wie mir scheint, bereits auf 10.00 Uhr zeigt.Wenn
ich hinaus schaue auf meinen geliebten Baum vor meinem
Schlafzimmerfenster, sehe ich seine Zweige im Winde hin und her
schwanken. Der Wind ist aber kein Sommerwind, wie ich ihn liebe,
sondern ein kalter Nordwind, der schon seit Tagen über das
Land rast. Der Himmel ist bleigrau, von Sonne keine Spur. Lust
zum Aufstehen verspüre ich nicht, wozu denn auch? Ich bleibe also
im Bett und hänge einfach meinen Gedanken nach.
Als ich heute morgen aus bleischwerem Schlaf aufwachte, fühlte ich
mich gar nicht gut. Wieder einmal war ein Tag angebrochen, den ich
alleine verbringen würde. So langsam komme ich mir vor wie auf
einer einsamen Insel, wie Robinsoe Crusoe, inmitten eines riesigen
Ozeans. Ich denke an den Film "Cast away" mit Tom Hanks, den ich vor
einigen Wochen gesehen habe. Er spielt einen Mann, der durch den
Absturz seines Flugzeugs aus seinem normalen Leben gerissen wird, wie
durch ein Wunder überlebt und auf eine einsame Insel verschlagen
wird. Dort fristet er sein Dasein und hofft auf ein vorbeikommendes
Schiff, das ihn aus seiner Einsamkeit erlöst. Er hat keinen
"Freiytag", mit dem er sprechen könnte. Den schafft er sich
eines Tages aber, in dem er einen Fußball mit einem menschlichen
Gesicht anmalt. Zu der von ihm geschaffenen Figur, ich glaube, er
nannte ihn Mr. Smith, redet er fortan, und so bleibt er mental
gesund. Außerdem hat er ja auch noch die Hoffnung, dass er
wieder in die Zivilisation und zu seiner geliebten Frau zurück
kommt.
Also, einen Fußball musste ich mir noch nicht bemalen, um einen
Gesprächspartner zu haben. So weit ist es Gott sei Dank doch
noch nicht gekommen. Aber ehrlich: mir fehlt manchmal auch so ein Mr.
Smith, mit dem ich mich unterhalten könnte!
Natürlich könnte ich einfach zum Telefon greifen und
ein paar Leute anrufen. Aber warum ruft mich denn keiner an? Ach, meine
Welt ist einsam geworden! Auf die mir bekannten Gesichter und
Geschichten habe ich an diesen Tagen einfach keine Lust. All die
Gespräche meiner Freunde laufen doch immer wieder auf das gleiche
raus: fast jeder ihrer Sätze spiegelt ihren Frust auf die
Welt und ihre spezielle Situation wider.
Meine Tochter, die für ihre jungen Jahre schon sehr weise
ist und die es wirklich gut mit mir meint, sagt immer zu mir, ich solle
mich nicht so einkapseln und öfters unter die Leute gehen.
Aber das ist nicht so einfach. Ich habe das schon so oft
ausprobiert, bin alleine irgendwohin gegangen und habe mich unter
lauter fremden Menschen noch einsamer gefühlt als allein zu Hause.
Das hat auch schon der kleine Prinz gesagt (siehe oben). So ist das nun
einmal. Nicht, daß ich unter der Situation leide, ich
stelle mir nur vor, daß es mit jemandem, mit dem ich auf
der gleichen Wellenlänge schwimme, interessanter sein
könnte, auszufliegen, zu reisen oder einfach nur einen
verregneten Tag zu verbringen.
Manchmal fühle ich mich wie ein Schmetterling, der einen
Flügel verloren hat. Er möchte fliegen und die Welt
sehen, kann es aber nicht, weil er ein Handicap hat.
Was gäbe es noch für mich? Einen Fitness-Club? Nein danke,
das habe ich probiert, schon zum zweiten Mal. In beiden Clubs kam
es nur darauf an, die richtigen Sportklamotten zu tragen.
"Was, Sie haben keine Adidas-Schuhe?" Oder ähnliche Kommentare waren da zu hören.
Was da so ablief, war wirklich nicht nach meinem Geschmack.
Ein
Wanderklub? An und für sich eine gute Idee! Ich liebe
die Natur sehr, und Ausflüge oder - noch besser
- Reisen, sind eine wunderbare Sache. Irgendwie sehe ich mich aber
nicht als Clubmitglied in Kniggerboggern und derben
Wanderschuhen. Zudem befürchte ich auch, daß ein
organisierter Klub nicht das Richtige für mich ist. Viel zu sehr
bin ich Individualist, als dass ich mich dort wohl fühlen
könnte.
Ich bleibe also noch ein bisschen in meinem Bett, lese die mich
interessierenden Artikel der letzten Woche, die sich neben meinem Bett
stapeln, höre Radio und hänge meinen Träumen nach, von
denen ich weiß, dass sie nicht in Erfüllung gehen
werden. Besser träume ich aber, als daß mich eine
unerquickliche Realität jeglicher Illusionen beraubt.
Ich
werde den Tag, so wie es aussieht, alleine verbringen. Heute ist
zwar Pfingsten, und viele Leute unternehmen viele schöne
Sachen, gemeinsam und trotz des Regens. Vielleicht fallen sie
sich aber auch auf die Nerven und würden vieles darum geben,
einmal in Einsamkeit abzutauchen. Kann alles sein! Es heißt ja,
daß eine Reihe von Feiertagen, die dann auch noch verregnet sind,
leicht zu Familienkrächen führen können. Und manch einer
wird aufatmen, wenn ihn die neue Arbeitswoche wieder in ein "normales"
hektisches Leben zurückführt. Ich werde mich mit niemandem
streiten: ich kann das machen, was mir Spaß macht: lesen,
schreiben, schöne Sinfonien hören, kochen, ein gutes
Glas Wein trinken oder in meinen Photoalben blättern und all
die schönen Erinnerungen an meine letzten Reisen hervor kramen.
Oder ich werde in den Film gehen, den ich schon so lange sehen
wollte.
Apropos schöne klassische Musik: zur Zeit läuft gerade das
herrliche Violinkonzert von Ludwig van Beethoven.
Ich habe über diese Musik schon einmal geschrieben: ich
hörte sie auf einem Sommerspaziergang über blühende
Felder und Fluren und war, obwohl ich sie so gut kenne,
hin und weg von ihrer wundervollen Schönheit. Siehe auch : Ein
Sommerspaziergang.
So tauche ich ein in traumhafte Musik, schreibe meine Gedanken auf und
bin mit dem Tag recht zufrieden. Vielleicht wäre alles
auch nur halb so schön mit jemandem, der für meine Interessen
überhaupt nichts anfangen kann. Jetzt ist niemand da, der meine
Kreativität behindert: Ich kann alles machen, was ich will, und so
lange ich will. Natürlich muß jeder für alles
einen Preis zahlen. Der Preis für meine Unabhängigkeit und
Freiheit ist die "Strafe" des Alleinseins.
Jedoch die Tatsache, daß ich heute meine Gedanken
aufgeschrieben habe, finde ich gut. Ich weiß wenigstens, was ich
will und was nicht. Vielleicht wird der heutige Pfingstfeiertag doch
noch schön, trotz des kalten Windes, der nach wie vor durch
die Blätter meines Baumes rauscht und der grauen Wolken, die
noch immer dräuend am Himmel hängen.Vielleicht werde
ich heute abend sagen:
Das war ein guter Tag! Und ich habe das Beste
daraus gemacht.
Ach ja, ein kleines Gedicht habe ich auch verfasst:
Der Sommer ist weit
Grau-schwarze Wolken
hängen tief
überm blühend Land,
treiben kalte Winde
rauschend durch der Bäume
grünes Kleid.
Frühlingsblumen
lassen wild zerfetzt vom letzten Sturm
traurig ihre bunten Köpfchen hängen,
wild zerfetzt vom rasenden Sturm.
Am Fenster steh ich
halt sehenssuchtsvoll
Ausschau nach goldener Sommerzeit.
Berlin, im Juni 2001
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