Reisespass in deutschen Landen
oder unterwegs in der Servicewüste Deutschlands

Es hatte sich ergeben, dass wir, meine Tochter und ich  mit ihrem kleinen Kind, einem damals ca. 15 Monate alten Mädchen, ihrem Hund Mzanga, einem wunderschönen, malawischen Mischling und einem unglaublich voluminösem Gepäck per Zug nach Hamburg reisen mussten. In dem Riesengepäck befanden sich allerlei Haushaltsgegenstände wie Töpfe, Geschirr, Decken usw., alles Dinge aus einigen Haushaltsauflösungen, die mehr ideellen als pekuniären Wert hatten und die man normalerweise besser im Auto transportiert hätte. Dies war aber unter den gegebenen Umständen nicht möglich.  

Meine Tochter hatte schon einige Zeit vorher versucht, für diese Reise ein Mutter-Kind-Abteil zu buchen, was aber wegen der Kurzfristigkeit nicht mehr möglich war. Stattdessen reservierte man für uns vier Plätze mit Tisch in einem normalen  2. Klasse-ICE-Abteil.

Uns war klar, dass es keine einfache Reise sein würde; dass es aber so katastrophal laufen würde, konnten wir nicht ahnen. Ich, als Mutter und Großmutter, sollte mitfahren, um hilfreich eingreifen zu können, wenn Not an "Frau" war.  Diese Regelung sollte sich als sehr weise und hilfreich herausstellen.

Und so nahm diese denkwürdige Reise ihren Verlauf:

Bis Frankfurt/Main lief alles nach Plan (wir waren in Oberstein gestartet und hatten mit Freude festgestellt, dass die beiden Lifte am Obersteiner Bahnhof endlich fertig gestellt waren und - oh Wunder - auch funktionierten. So konnten wir mit unserem großen Gepäck elegant  auf den eine Ebene höher gelegenen  Bahnsteig schweben, ohne, wie es früher der Fall gewesen war, schweißgebadet und außer Atem dort anzukommen.

Auf dem Frankfurter Bahnhof erkundigten wir uns bei dem “Chef de Gare“, wo sich in unserem ICE das Behindertenabteil befände. Dieses wollte nämlich meine Tochter ansteuern, um dort genau wie in einem Mutter-Kind-Abteil bequem und kleinkindgerecht reisen zu können. Weisungsgemäß stiegen wir, das heißt, schoben, schleppten und zogen wir unser Mammutgepäck inkl. Kinderwagen, Kleinkind und Hund (kniehoch) in den uns genannten Wagen. Noch völlig außer Atem stellte meine bahnreisegeübte Tochter leider fest, dass es der falsche Einstieg war: das Behindertenabteil läge auf der anderen Seite, meinte sie fachmännisch.

Um auf die andere, richtige Seite zu gelangen, schob sich  unsere Karawane  mühsam durch den Speisewagen, der gut besetzt und deshalb leider auch durch das  im Gang abgestellte Gepäck und  lässig dort abgestreckten Beinen mehr oder wenig unpassierbar war. Darüber hinaus wuselten zwei beflissene Ober mit schweren mit Speisen und Getränken beladenen Tabletts herum.

Am Ende des Ganges in Höhe der Kombüse stellten wir  zu unserem Schrecken fest, dass der Durchgang für unseren Tross viel zu eng war. Aus unerklärlichem Grund ließ sich der Kinderwagen auch nicht zusammenfalten, obwohl meine Tochter alle Tricks und letztendlich Gewalt anwendete, um das sperrige Gefährt auf ein durchgängiges  Maß schrumpfen zu lassen.

 Wie gestrandete Wale in einer Schleuse standen wir jetzt da  und versperrten für alle,  die vorbei wollten, den Durchgang. Es gab nur einen Ausweg: wir mussten uns wieder auf unseren Ausgangspunkt direkt vor der Tür, wo wir eingestiegen waren, zurückziehen. Vorbei an Kopf schüttelnden Obern und indigniert blickenden Reisenden schoben wir uns also wieder zurück.

Wir hörten sie fast denken:

Was sind denn das für Assis?  Einfach unverschämt, dauern hier den Betrieb zu behindern! Haben wohl kein Geld für eine Platzkarte!!

 Endlich hatten wie unsere zweite mühselige Durchquerung des Speisewagens geschafft und postieren uns außer Atem und  schweißgebadet wieder an unserem Ausgangsplatz  im Eingangsbereich vor den Türen.
Meine Tochter stürmte noch einmal los, um drüben auf der anderen Seite nachzusehen, ob in dem Behindertenabteil überhaupt Platz für uns wäre. Sie verschwand für eine kleine Ewigkeit.

Ich wartete und wartete. Unser kleines Mädchen, eigentlich noch ein Baby mit ihren 15 Monaten, war ganz brav und auch Mzanga, die Hündin, verhielt sich vorbildlich. Gleichmütig saß sie da und blickte mit ihren braunen großen Augen vor sich hin. Für sie war es Hauptsache, dass sie mit dabei war. 

Ein Zugbegleiter, der uns schon beim Einsteigen beobachtet hatte, fragte mich plötzlich auf bestem Hessisch: 

„Warum gehen Se denn net nebeneaan in de Mutter-Kind-Abtäl, do is doch Platz,  Do grad um die Eck“.


Ich schaute ihn entgeistert an. Warum hatte er uns nicht eher diesen Tipp gegeben?  Schließlich war er doch Zugbegleiter und sollte für uns Reisenden da sein. Anstatt uns zu helfen oder einfach einmal zu fragen, was unser Problem sei, hatte er uns von Anfang an nur mit großen Augen angeglotzt.

Endlich tauchte meine Tochter wieder auf. Sie hatte das Abteil für uns klar gemacht, indem sie einem netten  jungen Paar unsere Reservierung (für 4 Plätze)  gegeben  hatte. Das andere Paar, ältere Leute, jedoch frei von jeder Behinderung und  somit ohne Anrecht auf Plätze in diesem Abteil,  wäre  jedoch nicht zu bewegen gewesen, ihre Plätze am Fenster aufzugeben.

Jetzt machten wir uns alle zusammen wieder auf zu der dritten Durchquerung des Speisewagen  auf. DiesesMal ließen wir allerdings ein Teil unseres Gepäcks inkl. des sperrigen Kinderwagens zurück.  Meine Tochter würde alles später Stück für Stück herüberholen.

Wieder ging es vorbei  an elegant Speisenden und entspannt, ihre langen Beine lässig ausstreckenden  Lesenden, wahrscheinlich meist 1. Klasse Reisenden, die uns  jetzt total entgeistert, ja fassungslos anstarrten.  Auch die Ober, immer noch beflissen mit köstlich duftenden Speisen und  Getränken unterwegs,  waren offensichtlich „not amused“, uns noch einmal zu sehen.

Am Ziel unseres unfreiwilligen Odyssee waren wir nicht willkommen. Das eiserne alte Paar am Fenster  zeigte ganz offen seinen Unmut über diese lästige Störung  speziell durch ein Kleinkind, das ja bekanntlich dauernd schreit und auch sonst Unruhe verbreitet.

Unser süßes kleines Mädchen war erstaunlicherweise ganz brav und nicht ahnend wie unwillkommen es war, versuchte es sogar, in ihrer süßen Babysprache mit den Alten zu kommunizieren. Das Paar jedoch würdigte es keines Blickes und blickte förmlich durch es hindurch.  Als dann meine Tochter versuchte, ihre Tochter zu füttern (mit kaltem Essen, das die Crew in der Küche nicht aufwärmen wollte oder konnte) und ein paar Krümel  auf den Boden fielen, versteinerten sich die Mienen der Leute vollends.

Unsere Hündin, Mzanga, saß derweil wegen Platzmangels draußen im Gang beim Gepäck und schaute noch immer mit ihrem schönen Gesichtchen gleichmütig drein. Bei jeder Station mussten wir zum Ausgang eilen, um sie und unsere Koffer aus dem Weg zu schieben, damit Leute aus- und zusteigen konnten.

In Hannover verließ  das eiserne Paar den Zug, und wir atmeten auf. Endlich hatten wir  für die letzte Strecke das Abteil für uns allein. Auch Mzanga durfte jetzt dabei sein. Sie machte sich erst einmal über die verstreuten Essensreste her und  sorgte auf diese Weise  für einen  tadellosen Fußboden.  Nach ihrer Mahlzeit verzog sie sich genüsslich unter den Tisch und versank in einen tiefen Schlaf. Kein Wunder, bei all den Strapazen, die sie auf dieser Fahrt erleiden musste.

In Hamburg hatten wir es dann  fast geschafft. Wir stiegen,dieses Mal mit Hilfe von ganz lieben Menschen, die uns  ganz selbstverständlich mit unserem sperrigen Gepäck halfen,  in den Zug nach A.

Am Abend dieses Tages versanken wir alle  in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Von Zügen, Koffern, nicht zerlegbaren  Kinderwagen, stoffeligen Mitreisenden und unfähigen Zugbegleitern hatten wir an diesem Tag mehr als genug.

Fazit:  auf die Information, dass in Deutschland (endlich) wieder mehr Kinder geboren werden, sollte auch die Deutsche Bahn reagieren, indem sie genügend Mutter-Kind-Abteile zur Verfügung stellt und die Zugbegleiter  dahingehend schult, dass sie  Gestrandeten wie wir es an diesem Tag waren, tatkräftig und unbürokratisch unter die Arme greifen.

Das unfreundliche Verhalten der Mehrzahl der Bevölkerung kleinen Kindern gegenüber (auch, wenn diese so lieb wie kleine Engel sind) ist ein weiteres Problem und  kann nicht so einfach gelöst werden. Leute, wie wir sie auf unserer Reise getroffen haben, sollten jedoch nicht vergessen, dass nur  Kinder unsere Zukunft sin. Auch, wenn einige von ihnen einmal nicht so brav sind.


Idar-Oberstein, im  März 2009/update Nov. 2018

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