Nur noch „Erster Klasse oder
die Tücken einer Bahnfahrt
von Axel Stolterfoth


Mitte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ging es in der damals noch jungen Bundesrepublik wirtschaftlich allmählich wieder aufwärts. Den Entbehrungen der Nachkriegszeit setzte man bescheidene Vergnügungen und Zerstreuung entgegen. Als kleiner Junge von nicht einmal zehn Jahren war es sehr aufregend, wenn an einem schönen warmen Sonntag im Sommer eine Eisenbahnfahrt von Idar-Oberstein nach Bad Münster am Stein in den Kurgarten, bei Kaffee und Kuchen zum Tanz, unternommen wurde. Voraussetzung für diesen besonderen Ausflug war für mich, meiner allein erziehenden Mutter dabei keinen Ärger zu machen.
Sie hatte es nicht leicht mit mir. Ich gelobte Artigkeit. Man warf sich also in Schale. Mutter im luftig großgeblümten bunten Sommerkleid mit Strohhut, Sonnenbrille und Pantoletten, sehr mondän. Ich dagegen in meinem Lieblingstrikot des damals noch in der Oberliga-Nord spielenden Fußballvereins Hamburger SV. Weißes Polohemd, dunkelblaue kurze Hose, weiße Kniestrümpfe und braune Sandalen. Mir war es direkt peinlich, in diesem Aufzug an der Hand meiner Mutter auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle der Idarer Gewerbehalle womöglich einem meiner Schulkameraden zu begegnen.
Mit von der Partie bei diesen Ausflügen gesellte sich stets Tante Tutti, eine ferne Verwandte aus der Dietzenstraße. Unverheiratet, blond, rot geschminkte Lippen, im engen Rock und Stöckelschuhen. Etwas steif, aber humorvoll und liebenswert. Tante Tutti war die Ruhe selbst – daher eine angenehme Reisebegleiterin. Auf Tante Tutti musste man immer warten. Sie wurde nie fertig. Selbst die Straßenbahn wartete, wenn es hieß: „Tutti kemmt noch.“ Während wir schon aufgekratzt in der Straßenbahn saßen, stöckelte Tante Tutti wie ein Storch mit rotem Schnabel seelenruhig die Treppenstufen der Gewerbehalle herunter. Auch ungeduldiges Bimmeln der Straßenbahn vermochte ihre Gangart nicht zu beschleunigen. Desto rasanter legte sich die Trambahn quietschend in die Kurven zum Obersteiner Bahnhof, um die von Tante Tutti verursachte Verspätung wieder aufzuholen. Wir durften auf keinen Fall den Zug verpassen. Aber das kümmerte Tante Tutti wenig. Sie saß aufrecht auf der harten Holzbank und hielt ihren wohlfrisierten blonden Dauerwellenkopf geradeaus.
Am Obersteiner Bahnhof herrschte bereits reger Betrieb. Reisende mit Koffern, Rucksäcken und Hüten. Umständliches Kramen in den Damenhandtaschen beim Lösen der Fahrkarten am Schalter. Ein gewichtiger Bahnbeamter in dunkelblauer Uniform kontrollierte vor der Bahnsteigsperre die Reisebilletts und entwertete sie mit einer großen silbernen Lochzange, die an einer langen Metallkette an dem Revers seiner Uniform befestigt war. Mit dieser Waffe machte er mächtig Eindruck und wünschte den Fahrgästen eine gute Reise. Den einen oder anderen kannte er und fragte schon mal nach, wohin es ginge. Er selbst konnte ja nicht mitfahren. Wir durchquerten die halbdunkle Bahnhofsunterführung und bogen am Ende nach rechts, die Treppe zum Bahnsteig hinauf. Tante Tutti mit ihren laut klappernden Absätzen immer hinterher. Dem Antritt der Reise stand jetzt nichts mehr im Wege.

Auf dem Bahnsteig roch es nach der weiten Welt, nach Rauch und Ruß. Die Ansage aus dem Bahnsteiglautsprecher unterbrach das aufgeregte und erwartungsvolle Stimmengewirr der Reisenden mit der Bekanntgabe, dass in wenigen Minuten der Schnellzug von Paris nach Frankfurt am Main, über Saarbrücken – Idar-Oberstein – Kirn – Bad Kreuznach und Mainz, Einfahrt habe. Planmäßige Abfahrt 13 Uhr 07 am Gleis 2. „Bitte Vorsicht an der Bahnsteigkante!“ Nun wurde es spannend. Ich zog nach vorne. Mutter umklammerte fest meine Hand. Über dem geraden Schienenstrang konnte man die Höhlen der beiden Tunnels zwischen Oberstein und Enzweiler genau erkennen. Die linke Seite  der Tunnelhälfte verdunkelte sich und es erschienen drei Lichtpunkte. Explosionsartig quoll eine weiße Rauchwolke aus dem Tunnelschlund nach oben gegen die Felsen des Homerichs. Eine riesige schwarze Dampflokomotive näherte sich, immer größer werdend, bedrohlich dem Obersteiner Bahnhof.
Mir schlug das Herz bis zum Halse, als der ganze Bahnsteig von diesem Ungetüm in beißenden Nebel gehüllt wurde. Zwei finstere Gestalten, Lokführer und Heizer, hingen aus den Fenstern der Lokomotive und beobachteten das Gedränge auf dem Bahnsteig. Mit kreischenden Bremsen kam der Zug zum Stehen. Aus dem Lautsprecher dröhnte es: „Idar-Oberstein – Idar-Oberstein!“ Türen wurden aufgerissen. Es wurde herumgeschrieen, gerufen und gewunken.
Ängstlich klammerte ich mich am Sommerkleid meiner Mutter, als plötzlich vor uns Tante Tutti mit einem spitzen Aufschrei aus einer Menschentraube in den Waggon gehievt wurde. Wir folgten und fanden uns wieder im Gedränge auf den Gängen vor den Abteilen. Tante Tutti schob vor uns eine Abteiltür auf und fragte lautstark, ob hier noch was frei sei. Im Abteil ein Herr mit Glatze auf der linken Seite zum Gang und auf der Rechten, schräg gegenüber am Fenster, eine Nonne.
Bitte“, entgegnete der Herr mit einer einladenden Handbewegung, die Nonne schwieg. So setzte sich Tante Tutti rechts neben die Nonne. Ich stürmte dagegen auf die linke Seite ans Fenster. Mutter zwischen dem Glatzkopf und mir, was ihr nicht sehr zu behagen schien und den Glatzkopf sichtlich amüsierte. Er streckte wohlig seine Beine aus, denn der Sitzplatz  ihm gegenüber blieb frei, während Mutter und Tante Tutti ihre Beine kreuzten.
Die Nonne musterte sogleich geringschätzig den auffälligen Kopfschmuck meiner Mutter, während Tante Tutti umständlich in ihrer Handtasche zu kramen begann, um endlich mit Lippenstift und Handspiegel ihr „Make up“ in Ordnung zu bringen. Sie zog dabei ihre roten Lippen mit dem Stift kräftig nach, was der Nonne ebenfalls sichtlich missfiel. Diese beiden „Idarer Weiber“ im Abteil hatten ihr gerade noch gefehlt. So ist das eben bei der Bahn. Man muss mit dem vorlieb nehmen, was sich einem bietet. Sie fühlte sich offensichtlich  in ihrer Askese verletzt und wendete ihren Blick ostentativ  aus dem Fenster.
Ich machte mir derweil Gedanken über die merkwürdigen Konflikte in der Sozialisation Erwachsener. Noch bevor der Zug anfuhr und der Bahnsteig sich zu bewegen, schien herrschte im Abteil bereits dicke Luft. Das kann ja heiter werden. Langsam kurvten wir über die Wüstlautenbachbrücke zwischen den Felsen hindurch. Hier konnte man ungeniert  in die Fenster der Hinterhäuser hineinsehen. Dabei erkannte ich ganz deutlich, wie sich ein am Tisch sitzender dicker Mann  sich eine Flasche Bier an den Hals hängte und dem vorbeifahrenden Zug zuprostete. Wenn er das bei jedem Zug so machen würde, also im wahrsten Sinne Zug um Zug, müsste er täglich  bestimmt einen ganzen Kasten Bier leeren. Das würde auch seine dicke Figur erklären. 
Jetzt schob sich die spektakuläre Kulisse der Obersteiner Felsenkirche mit altem und neuem Schloss vor das Abteilfenster. Die Nonne wurde von dem Anblick der in den Felsen hängenden Kirche  ganz andächtig. Hart und fest im Glaube zu stehen, spiegelte diese Landschaft wider. Auch wenn jetzt der weiße Rauch des nunmehr Fahrt aufnehmenden Zuges den frommen Anblick teilweise verhüllte und vielleicht in Frage stellte. Mit lautem Signalpfiff durchbohrte jetzt die Eisenbahn die „Gefallenen Felsen.“ Durch einen gewaltigen Sog wurde es Nacht im Abteil. Die automatisch eingeschaltete  Notbeleuchtung verwandelte alle Gesichter zu gelblichen Masken. Die Nonne mir gegenüber wurde im Spiegel des Abteilfensters in eine  schwarze Hexe verzaubert. Wir fuhren durch die Hölle. Ich hatte Angst und  schlug mir so lange die Hände vors Gesicht, bis es wieder hell wurde.
Vor uns breitete sich nun die ganze Schönheit der sonnigen Nahelandschaft aus. In lieblichen Windungen begleitete der Fluss, einmal rechts, einmal links, unsere Fahrt. Hinter einer Biegung entfernte sich die Nahe und entschwand, um unerwartet unter einer Brücke zwischen uralten Weiden wieder aufzutauchen. Dazu gesellten sich die auf- und abschwingenden Linien der Telefondrähte neben den Gleisen. Sie tanzten von Mast zu Mast im Rhythmus des Schienenschlages. Meine erstaunten Kinderaugen konnten die ständig wechselnden Eindrücke so schnell gar nicht wahrnehmen. Der Nonne schien es zu gefallen, den Knaben der Schöpfung gewogen zu sehen, denn sie lächelte ein wenig gequält. Sie liebte Kinder, durfte aber keine haben. Ihr Herr war hart. Das sah man in ihren strengen Gesichtszügen.
Wie unser Fräulein Werner beim Musikunterricht in der Schule, wenn wir wieder einmal grottenschlecht sangen.
Meine Mutter strich mir durchs Haar. Bis jetzt war ich doch recht brav gewesen und begann in der Wärme des Abteils ein wenig vor mich hin zu dösen. Mutter kramte aus ihrer Handtasche ein kleines Fläschchen Parfüm hervor: „Chanel No. 5, benetzte leicht die Kuppe des Mittelfingers und kühlte in eleganten Armbewegungen ihre Haut auf beiden Seiten am Halsbereich. Diesem Duft der Sünde musste die Nonne etwas entgegensetzen. Unter ihrer schwarzen Kutte zauberte sie eine kleine Flasche „Klosterfrau Melissengeist hervor und kühlte sich damit die Stirn. Dieses Mittel benutzte auch meine Großmutter.
Die Nonne erhob sich jetzt mit einer halben Drehung und holte aus dem Gepäcknetz über ihr einen kleinen schwarzen Lederrucksack herunter, stellte ihn auf den Sitz, öffnete den Schnürsenkel und entnahm einen handballgroßen Apfel. Der stammte sicher aus dem Klostergarten oder dem Garten Eden. Sie klappte geschickt ein kleines Tablett unter dem Abteilfenster auf, legte eine Serviette unter und begann die Frucht der Versuchung mit einem Küchenmesser zu schälen. Der süße Geruch des Parfüms meiner Mutter wurde durch gesundes irdisches Aroma verdrängt. Die Nonne teilte den Apfel in etwa ein Dutzend Happen, fügte sie fein säuberlich auf der Serviette zu einem Kreis und begann diese, trotz Adam und Eva, auf beiden Backen kauend, zu vertilgen. Mir lief dabei das Wasser im Munde zusammen. Auch meine hungrigen Augen vermochten nicht, sie gnädig zu stimmen.
Ich wendete mich wieder der Außenwelt zu. Die Dramaturgie der Landschaft wechselte. Das Tal wurde enger, die Felsen steiler, es herrschte Finsternis. Die Nahe umtoste schäumend schroffe Felsriffe. Wütend pfiff die Lokomotive. Wir rasten wieder in die Nacht eines Tunnels. Durch die Heftigkeit der Erschütterung blieb der Nonne, im wahrsten Sinne des Wortes, der Apfel der Versuchung im Halse stecken. Sie verschluckte sich dermaßen, dass sie ihr Gesicht unter dem schwarzen Talar verbergen musste. Als es wieder hell wurde, liefen ihr die Tränen über die Wangen. Die Strafe des Herrn für ihre Versuchung und ihren Geiz. Sie rang nach Luft. Ihr Husten beruhigte sich. Den Rest des Apfels wickelte sie sorgfältig in die Serviette und verstaute alles im Rucksack, den sie wieder ins Gepäcknetz bugsierte. Sie schickte sich an, nach diesem Schreck, das Abteil zu verlassen.
Der Glatzkopf zog die ausgestreckten Beine an sich und wollte der Nonne die Abteiltür öffnen. In diesem Moment gab es einen heftigen Ruck und die Nonne landete kurz vor dem Ausgang mit einem spitzen Schrei auf dem Schoß des Glatzkopfes. Es gab ein kleines Gerangel, bis der Herr der „Überirdischen“ wieder auf die Beine verholfen hatte. Hochnotpeinlich entschwand die schwarze Witwe gedemütigt über den Gang und suchte schnell  das Weite. Die Spannung im Abteil entlud sich in übermäßiger Heiterkeit.
"Die benutzt jetzt die Toilette als Beichtstuhl, wieherte der rot angelaufene Glatzkopf sarkastisch. „No, no“; dämpfte Tante Tutti den Zynismus des Herrn.
Mich überkam nach diesen Turbulenzen Übelkeit. Ein Völlegefühl im Magen, ausgelöst durch das mächtige Mittagsmahl, das traditionell an Sonntagen bei uns serviert wurde. Nur weil der Großvater auf die Jagd ging, musste ich jedes Wochenende Rehpfeffer mit Klößen über mich ergehen lassen, und wenn ich meinen Teller nicht leer aß, durfte ich nicht mitfahren.So hatte ich mich noch einmal total übernommen, was sich jetzt ausgerechnet in der Eisenbahn bitter rächen sollte. Mir trat der kalte Schweiß auf die Stirn. Ich ergriff Mutters Hand, und wir flohen in Richtung Toilette. Die war  aber noch blockiert von der Nonne, die wahrscheinlich nach ihren weltlichen Erlebnissen noch immer  in Zwiesprache mit ihrem Herrn war.
Also ging es weiter durch eine ziehharmonikaartige Schleuse zum nächsten Waggon. Hier zog, kreischte und rüttelte es, dass einem Hören und Sehen verging. Sogar meine Übelkeit wurde von diesem Inferno verdrängt. In letzter Sekunde erreichten wir das rettende Klo, Gott sei Dank .Ich stülpte mich über die fauchende Kloschüssel und erbrach. Nie wieder sonntags Rehpfeffer! Lieber gehe ich zum FC Idar auf Klotz Fußball gucken,  als mit Tante Tutti,  Nonnen und Glatzköpfen nach Bad Münster am Stein zu fahren. Mutter versuchte mich zu beruhigen, doch ich war untröstlich.

Es klopfte von außen an die Tür: Tante Tutti fragte,  was denn los sei. Mutter ging raus, dann wurde  getuschelt. Schnell verriegelte ich die Toilette von innen.  Draußen klopften, riefen und flehten sie. Nach einer Weile hörte  ich noch aufgeregteres Gemurmel einer größeren Ansammlung von Leuten  auf dem Gang. Man schien sich zu beraten.
Plötzlich gab es ein lautes Knackgeräusch. Die Tür wurde von außen mit einem Werkzeug geöffnet. Ich stemmte mich mit aller Kraft von innen gegen die Tür. Ein heftiger Stoß drückte mich schmerzhaft an den Rand des Waschbeckens. Die Tür öffnete sich. Ein großer Mann in dunkelblauer Uniform stand kreidebleich vor mir und starrte mich erschrocken an. Kein Mensch sonst weit und breit. Er legte seinen linken Arm auf meine Schulter, zog mich mit der Rechten sanft aus der Toilette und führte mich durch die fauchende Ziehharmonika in einen anderen Waggon. Hier war es angenehm ruhig, alles gedämpft und gepolstert. Hier waren kaum Leute. Er öffnete ein Abteil und legte mich behutsam auf eine weich gepolsterte Sitzbank. Er deckte eine leichte Wolldecke über mich. Auf einem kleinen Klapptisch servierte er mir in einem weißen Becher gelbe Limonade, dazu auf einem kleinen Teller einen Riegel Schokolade. Ich möge ein wenig ruhen. Er käme gleich wieder.
Hier ließ es sich aushalten. So reist man vornehm „Erster Klasse“:   Kein Schienenschlag, keine Verdunklung im Tunnel, alles blieb hell,  nicht wie in der gruseligen Geisterbahn der anderen Waggons. Der Zug rollte, vielleicht mir zuliebe, sanft und ließ mich in meinem Luxusappartement einschlummern.

Ich träumte, wie Mutter und Tante Tutti im Kurgarten tanzten, als ein großer Herr in dunkelblauer Uniform auf meine Mutter zukam , sich verbeugte und ihr einen Handkuss verpasste. Ich schlich mich von hinten heran und steckte ihm eine Portion Waffeleis zwischen seinen Uniformkragen. Die Wolldecke wurde sanft gelüftet. Ich erschrak. Der Herr in der dunkelblauen Uniform lächelte gütig und meinte, wir seien am Ziel der Reise. Der Zug stand still.  Keine Menschenseele auf dem Bahnsteig, ausser  Mutter und Tante Tutti mit völlig verheulten Gesichtern. Mit einem Satz sprang ich aus dem Waggon und rannte auf sie zu. In Zukunft nur noch „Erster Klasse!“

 Der Zug pfiff,  fuhr an und verschwand am Horizont. Adieu Paris!


Diese kleine Erzählung widme ich dem Andenken der beiden Idarer Fußball-Legenden Rudi Heller und Karl-Otto Schüssler.

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Im Januar 2015