Lied eines kleinen Vogels

Der liebe Gott
hat mir geschenkt

ein grünes Federkleid
 mit vielen gelben Tupfern.
Zwei Schwingen hab‘ ich

stolz und schön,
die, nicht gebraucht,
an meinen Seiten steh’n.
So gern möcht ich sie spannen
und fliegen in die Höh‘.

Entschweben möchte‘ ich,
in die Wolken,
die Welt von oben sehn.
Doch ist‘s mir nicht beschieden
in meinem kurzen Sein
zu leben wie die anderen,
wie Spatzen, Schwalben
und die Meisen,

die hoch am blauen Himmel
kreisen und froh  ihre Liedchen pfeiffen.

Ein Stubenvogel bin ich nur,
leb‘ traurig und allein
in meinem Bauer.
Kein Luftzug rührt an mein Gefieder,
auch nicht der warme Sommerwind.
Ich atme nicht
den Duft von Flieder,

von Wiesen grün,

wo bunte Blumen blühn.

Ich singe keine Lieder,
wie and‘re sie zu jeder Zeit
wohl singen über Bergeshöh’n
und Tälern weit.
Oft fang ich an zu träumen
vom großen wilden Meer,
wo grüne Wasser schäumen.
Jemand öffnet meinen Käfig,
und los flieg ich, so schnell ich kann,
hoch in den weiten Himmel.


»Was ist der Endzweck dieser Erdenwelt? Glückseligkeit!
Und welches Mittel hilft uns sie zu erreichen? Die Freiheit!»


Zitat von Sandor Petöfi (ungar. Dichter 18.23. - 1890)


Berlin, 11. Januar 2001
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