Ich erinnere mich: Blick zurück in alte Idarer Zeiten
Vor 60 Jahren war ich ein kleines Mädchen von fast 13 Jahren und lebte
mit meinen kleinen Geschwistern in unserem großen, schönen Haus
in Idar. Es war damals schon über 100 Jahre alt und war mit seinen
großzügigen Räumen sehr bequem und für damalige Zeiten direkt luxuriös.
Ich habe schon einmal in meiner Geschichte: „Frei und unbeschwert wie
ein Vogel möchte ich sein“(noch unveröffentlicht)
über die vielen Festivitäten geschrieben, die in diesem Hause
stattfanden. Wir hatten wunderbare Zeiten in diesem großen, alten Haus
verlebt, und ich denke noch immer mit Freude und Dankbarkeit an sie
zurück.
Ich sehe die Eltern vor mir, unseren Vater, der mit seinen
fast 2 m Körpergröße eine imposante Gestalt war, unsere Mutter,
die um einiges kleiner an seiner Seite sehr zierlich, ja
fast zerbrechlich wirkte.
Heute Abend, 60 Jahre später, sitze ich in meinem Schlafanzug auf
meinem Bett und blicke auf das Lichtermeer herunter, in dem sich die
kleine Stadt Idar badet.
Gar nicht weit von meiner neuen Wohnung steht noch immer unser gutes
altes Haus, der Ort unserer unbeschwerten Kindheit. In Gedanken
erinnere ich mich an die vielen kleinen Episoden, die ich dort erlebt
hatte, es ist fast so, als sei alles erst gestern gewesen. Ich sehe die
hohen Räume, unsere im obersten Stock liegenden Schlafzimmer, den
herrlichen Garten hinter dem Haus, den Idarbach, der damals leider noch
recht schmutzig munter vorbei plätscherte.
Im Jahre 1973 hatten unsere Eltern dieses schöne Haus aufgegeben,
um in einem nahegelegenen kleinen Dorf, in Nockenthal, mitten in
sauberer Luft und herrlicher Natur ein neues kleines Paradies zu
schaffen.
Von meinem Schlafzimmer blicke ich ebenfalls auf die alte
Volksschule, in die ich mit 7 Jahren eingeschult wurde und in der
ich die ersten Jahre unter der Fuchtel eines bösartigen Lehrers litt.
Dieser tat alles, um mein Selbstwertgefühl zu untergraben und hat damit
sicherlich auch dazu beigetragen, dass ich Zeit meines Lebens Probleme
damit hatte. Meine Mutter hatte damals vehement eingegriffen, indem sie
sich wie eine Löwin auf dieses Scheusal von Lehrer stürzte und meine
Versetzung in eine andere Klasse mit einem anderen Lehrer durchsetzte.
Überhaupt nicht in dieses schöne Bild, das sich mir bietet, passt der
Riesenbau der Edelsteinbörse, die eine Funktion als Börse schon seit
langer Zeit nicht mehr hat. Sie steht zum größten Teil leer.
Dort im 8. Stock hatte unser Vater sein Büro, das aus drei geräumigen
Zimmern bestand. Ich sehe ihn noch immer dort sitzen, in das Sortieren
seiner Edelsteine vertieft. Der Ausblick von dort oben war einfach
überwältigend. Auch der Graupapagei, den mein Bruder dort in einem
großen Käfig hielt und der uns immer mit seinem Geplapper amüsierte,
ist noch lebhaft in meiner Erinnerung.
Die Fotografie meiner Eltern – sie waren damals schon beide weit über
80 – ist sehr rührend. Unser Vater, der große Mann, ist festlich
gekleidet zu seinem Geburtstag, und klein an seiner Seite, ebenfalls
schön gekleidet und frisiert, steht unsere Mutter. Ihr noch immer
schönes glattes Gesicht strahlt unendliche Liebe aus.
Ein paar Jahre nach dieser Aufnahme, im Jahr 2006, bin ich von
Berlin nach Idar zurückgekommen. Papa war inzwischen mit fast 92 Jahren
an einer Lungenentzündung gestorben und hatte Mama einsam und allein
zurückgelassen.
Ich kam zu ihr, hatte die besten Absichten, eine Unterstützung für sie
zu sein. So, wie ich es unserem Vater Jahre vorher schon versprochen
hatte. Leider war ich dieser Aufgabe nur bedingt gewachsen. Wenn ich
heute an diese Zeit denke, ist mein Herz mit Traurigkeit erfüllt. Und
Scham, dass ich versagt hatte. Ich hatte viel zu wenig Geduld in
dieser Zeit, Geduld, die ich gebraucht hätte, mit meiner Mutter, die in
ihren letzten Jahren an einem tiefen Misstrauen gegenüber ihrer
Umwelt litt, liebevoll und beherrscht umzugehen.
Ganz zum Schluss ihres Lebens, als sie schon in einem Seniorenheim
lebte und wahrscheinlich durch Medikamente zu Sanftmut und
Freundlichkeit in Person geworden war, haben wir wieder in
Liebe zueinander gefunden. Es war ein schöner Augenblick, an den ich
wahrscheinlich bis an mein Lebensende denken werde.
Leider wurde jedoch unsere verbleibende gemeinsame Zeit durch
ihren plötzlichen Tod abrupt beendet. Wir alle blieben
fassungslos zurück. Jegliche Chance ihr zu zeigen, wie sehr wir sie
liebten und wie viel sie für uns war, war aus und vorbei. Ihr Tod hatte
ein schreckliches Machtwort gesprochen.
Heutzutage denke ich noch sehr oft mit tiefer Trauer an diese Zeit zurück.
Der Erinnerung wegen bin ich nicht nach Berlin zurückgegangen. Hier in
dieser kleinen Stadt, die so sehr mit ihrem Niedergang kämpft,
fühle ich mich zuhause, weil hier mein Ursprung ist. Weil ich mich
hier meinen, unseren Eltern nahe fühle und ich dies zum Leben
brauche.
------------------------------------------------
Als noch klein war….
Als ich noch klein war
und wie ein Küken
im Nest der Eltern saß,
kam mir die Zeit endlos vor,
unbeweglich wie ein Felsblock
am Wegesrand,
Die Sekunden einer Stunde,
die Stunden eines Tages,
die Tage eines Monats
die Monate eines Jahrs
krochen dahin wie Schnecken
so langsam und gemächlich.
Mein Herz war voller Ungeduld
begierig, den ewigen Kreis
zu durchbrechen,
mich wie ein Vogel
in der Grenzenlosigkeit
des Himmels zu verlieren.
Wie konnte ich denn ahnen,
dass das, was war,
etwas Unwiederbringliches,
mein Leben war,
das mit jeder Sekunde
Stück um Stück verging,
dass die Stunden eines jeden Tages
wie kostbare Perlen einer Schnur waren,
die, wenn sie zerriss,
verloren gingen - für immer.
Irgendwann erfüllten sich meine Wünsche,
und die Zeit begann sich zu bewegen.
Immer schneller verging sie,
viel zu schnell als ich es je gewollt.
Wie auf einer Achterbahn im freien Fall
rase ich nun durch die Zeit,
die, wie es mir scheint,
ungebändigt wie sturmgepeitschtes Meer
immer in Bewegung ist.
Vorbei sind sie lange schon,
die heißen Sommer,
die nicht enden wollten
und jetzt nur noch lebendig sind
in meinen Träumen und der Erinnerung.
G.B.
Kleine Bildergalerie aus längst vergangenen Zeiten:
Ich (Autorin)
mit 7
Jahren
Unser schöner
Garten
Kaffeetrinken im Garten, Fotograph war unser Vater
»Die Zeit vergeht, immer schneller werden ihre kleinen eiligen
Schritte. Wie goldene Stäubchen im roten
Strahl der Sonne, so flimmern
in der Zeit die Menschen auf und verschwinden wieder.»
Zitat von Gorki
aus »Italienische Märchen»
Idar, Januar 2010/März 2016 update
Copyright© Gisela Bradshaw