Gefangene Kreatur

Stunde für Stunde, Tag für Tag
sitzt der kleine weiße Pudel
auf dem Balkon,
Läuft  ohne Unterbrechung
an  Gitterstäben auf und ab,
rauf und runter, hin und zurück.
Ab und zu bleibt er  stehen,
hebt sein linkes Pfötchen
kratzt sich ausgiebig  hinter seinem linken Ohr.
Nach kleiner Rast  fängt er wieder an zu traben,
ziellos, über Stunden,
den ganzen Tag lang,
stumpfsinnig auf  und ab,
hoch und runter,
ein Tun,
das jeder Abwechslung entbehrt.
Vor dem hässlichen Weihnachtsmann
aus Plastik, mit dicker Nase und rotem Hut
erschrickt er, bleibt  stehen,
hebt sein Beinchen,
schüttelt sich
und fängt von neuem an zu traben.
Ab und zu hält inne,
späht sehnsuchtsvoll
durch die Stäbe in eine andere,
lebendigere  Welt,
in der andere Hunde
glücklich Seit an Seit mit Frauchen
entspannt vorüber gehn.


Anmerkung:

Diesen armen, kleinen Pudel beobachtete  ich, als ich über Weihnachten bei meinem
Sohn in Kanada weilte. Direkt gegenüber von unserem Haus lag ein Balkon, auf dem dieses
arme Tier praktisch gefangen war. Es tat mir unendlich Leid, was ich in meinen Zeilen
plastisch zum Ausdruck gebracht habe. Sein Geschick erinnerte mich an das wunderbare
Gedicht von Rainer Maria Rilke „Der Panther“ (6.11.1902, Paris)

"Der Panther

Sein Blick ist vom Vorübergehen der Stäbe
so müd geworden, dass ihn nichts mehr hält.
ihm ist's als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter
tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
In der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf.  Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.


Copyright Gisela Bradshaw
St. Catharines, Canada, Ontario
26. December 2016