Ein Tisch verschwindet – ein Happening

Ja, es wäre ein sehr schöner Tisch, und auch der kleine elektrische Heizofen würde noch tadellos funktionieren. Ob man denn nicht auch Geschirr bräuchte? Sie hätten noch ein fast vollständiges Service in weiß-rot, einige Glassachen, alles noch tiptop. Der ganze Kram bräuchte nur abgeholt zu werden, am besten gleich.

Es war November, und der Winter hatte bereits mit voller Kraft das Land und die Stadt Köln erobert. Klirrende Temperaturen ließen Finger und Ohren bereits nach Sekunden gefühllos werden, und wer ohne warme Kleidung und Kopfbedeckung aus dem Haus ging, konnte am eigenen Leib erfahren, wie die Menschen im fernen Sibirien leben.

Wir hatten uns für 9.00 Uhr am nächsten Tag verabredet. Zu nachtschlafender Zeit fielen wir aus unseren Betten, um rechtzeitig zu dem Termin zu kommen. Unsere erste Hürde war das Auto, das sich über Nacht in einen weißen Eisblock verwandelt hatte. Nach fast halbstündiger Kräfte zehrender Kratzarbeit in klirrender Kälte, stiegen wir – fast selbst zum Eisblock geworden – mit wackeligen Knien ein und reihten uns in den starken morgendlichen Verkehr ein, der sich wie ein großer träger Lindwurm durch die Stadt schleppte.

Wir waren spät dran. Unsere Laune war der Temperatur angepasst – nämlich ganz tief im Keller. Dauernd stellten wir uns die Frage nach dem Sinn unserer morgendlichen Aktion. Eigentlich brauchten wir weder Tisch, noch Geschirr, noch Glaswaren. Wahrscheinlich würden wir alles irgendwann selbst zum Flohmarkt bringen. Aber wir hatten nun mal diese Verabredung, die eingehalten werden musste.
Natürlich kamen wir fast eine halbe Stunde zu spät, sehr ärgerlich, und auch die Miene unseres Spenders war entsprechend.
Mit Müh und Not und unter Aufbietung all unserer uns verbliebenen  Kräfte verstauten wir den uns gespendeten Nachlass in unserem Auto, den Tisch, den Elektroheizer, das Geschirr, Gläser und anderen undefinierbaren Kleinkram. Steif gefroren machten wir uns wieder auf unseren Heimweg. Inzwischen hatte sich der Verkehr verdreifacht, und so tuckerten wir schwer beladen durch die eisige Stadt  zurück zu unserem Heim. 
Gegenüber von unserer an einer viel befahrenen Straße gelegenen Wohnung fanden  wir zu unserem Glück einen Parkplatz. Wir fingen mit dem Ausladen an und brachten  unsere Last Stück für Stück quer durch den Verkehr auf die andere Straßenseite. Zuerst die großen Teile: den Tisch und den Heizofen, die wir direkt neben unserer Haustür „zwischenlagerten“. Zurück beim Auto sortierten wir noch in Windeseile den restlichen Kleinkram. Wir wollten so schnell wie möglich diese Aktion beenden, um endlich in das warme Refugium unserer Wohnung zurückkehren zu können. Unsere Gesichter waren zwischenzeitlich von der Kälte tiefrot und unsere Hände starr gefroren. Zu allem Überfluss war ein kalter Wind  aufgekommen und raubte unsere letzte Wärme.

Nach einer letzten gefährlichen Überquerung der  Straße schauten wir beide verständnislos  auf den Hauseingang.
Wo waren die vor kurzem hier abgestellten Sachen? Wo war der Tisch, wo der Heizlüfter?
Es war gespenstisch: alles schien sich entmaterialisiert zu haben, so als wäre nie etwas da gewesen. Dies konnte nur ein Spuk sein! Oder  hatte uns jemand einen bösen Streich gespielt? Und dann ging uns ein Licht auf! Beim Anblick eines dicken städtischen Sperrmüllautos, das schwer beladen um die Ecke schlingerte,  verstanden wir alles:
Alle mühevoll durch Eis und Schnee transportierten Sachen befanden sich an Bord  dieses Vehikels auf dem Weg zur Entsorgung.
Die unfreiwillige Komik dieses absurden Geschehens ließ uns noch tagelang lachen. Es kam uns wie ein Happening vor nach dem Motto des Films: „A lady vanishes“ oder  in unserem Fall „Ein Tisch verschwindet“.


Köln/Idar,  Nov./Dez. 2010/update Okt. 2018
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