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                                            Prolog


»Es ist doch erstaunlich, was ein einziger Sonnenstrahl mit der Seele
des Menschen machen kann.»

Zitat von
 Fjodor Michailowitsch Dostojewski -
Russischer Schriftsteller (1821 - 1881)


                                                          
Die Sonne geht auf

Es war der Sonnenaufgang, der sich im Osten des Himmels ankündigte, der sie wie elektrisiert aus  dem Bett springen ließ. Sechs Uhr dreißig Uhr zeigte die Uhr. Eigentlich war es noch viel zu früh, den Tag zu beginnen, und ein grauer Himmel hätte sie gewiss nicht so schnell aus ihren warmen Federn getrieben.

Aber dieser herrliche Sonnenaufgang war etwas ganz Besonderes. Sie schnappte sich ihre Kamera, die sie stets auf all ihren Wegen begleitete, und fing mit ihr jede einzelne Stufe der Lichtwerdung am  morgendlichen Himmel ein. Die Stufen verliefen in sich abwechselnden Stufen von Grau und schimmerndem Gold, das bald die Oberhand gewann und in einer regelrechten Explosion den gleißend hellen Feuerball der Sonne freisetzte.
  Der graue Morgenhimmel verfärbte sich allmählich  in helles Blau, das sich Stück für Stück in  intensives Dunkelblau verwandelte. Ein neuer Tag mit Sonne, Licht und azurblauem Himmel war geboren, ein großzügiges Geschenk Ende Oktober, kurz vor Beginn der Winterzeit.

Sie war aufgebrochen, hatte alles stehen und liegen gelassen, um so schnell wie möglich der Natur nahe zu sein, die frische, reine Luft des Waldes atmen zu können. Alle Wege, Wiesen und Felder waren noch nass von der vergangenen kalten Nacht. Glitzernder Tau hatte sich wie ein feines  Netz beschützend über alles gelegt.

Die Sonne stand inzwischen schräg am Blau des Himmels und warf goldenes Licht über das Land. Es war eine Sinfonie aus Farben von gelb, rot, rostbraun und gold, die ihre Augen fast blendete. Aufsteigender Nebel aus einer Talmulde waberte in ständiger Bewegung auf und ab, tauchte auf und verschwand wieder dirigiert wie von Geisterhänden. In solchen Momenten, dachte sie, werden Märchen erfunden : Von Nebel umwogten zarten Elfen, die für Menschen nicht sichtbar  durch die Lüfte schweben und mit dem Wind tanzen.

Reich beschenkt mit Walnüssen, die sie unter uralten Bäumen gefunden hatte, ging sie langsam zum Haus zurück. Das friedliche Land zog an ihren Augen vorbei, ein stilles Stück Erde  von überirdischer Schönheit, an dem  sie sich kaum sattsehen konnte. Tage wie diese, dachte sie, sind ein Geschenk, das in seiner Einzigartig- und Vergänglichkeit unbezahlbar ist und nur in ihrem Kopf, ihrer Erinnerung, aufbewahrt werden kann.

Ein weiteres Mal erlebte sie den grandiosen Akt eines Sonnenaufgangs. Dieses Mal jedoch war das Geschehen untermalt von perfekter Musik, die synchron mit dem grossartigen  Naturschauspiel alle Stufen vom Beginn bis zum glänzenden Höhepunkt  ausdrückte:
Es war  die Sinfonie Nr. 6, die Pastorale von Ludwig van Beethoven, die sie begleitete.  Eine Musik,  die sich in sanften Tönen der Geigen und lockenden Hörnern, langsam fast wie im Walzertakt auf- und abschwingt, sich gemächlich spiralförmig hochwindet, wieder behutsam abfällt, dann noch einmal Fahrt aufnimmt, immer höher und höher steigt, bis sie kurz vor dem Finale wieder zurückfällt, um letztendlich im strahlend schönen Klang der Geigen über allem schwebt und ganz zum Schluss leise  verebbt wie Wellen, die sich nach schneller Reise über das Meer am Ufer schäumend brechen und langsam wieder zurückrollen.

                                                      
                                               Nachtrag
 
Das Manuskript meiner  Geschichte über den Sonnenaufgang habe ich an einem einem grauen regnerischen Tag ins „Reine“ geschrieben. Per Zufall  war mir  eine CD in die Hände gefallen, die ich schon seit Jahren besitze, die ich aber noch nie richtig angehört hatte: Es war die CD « Russian Spirits Presented by voices of St. Petersburg»
Während ich also schrieb, begleitete mich diese  wundervolle russische  Chormusik, die mich fast in eine  Art von  Trance versetzte. Ich tauchte ganz tief hinein in eine andere Welt und  fühlte mich - trotz des grauen Himmels - einfach glücklich, entspannt und wunderbar.


Nockenthal, 30. Oktober 2016/update 6/2021
© 2016 Gisela Bradshaw