Der Findling
Auch an diesem Tag, es war ein Sonntag, war das Wetter einfach wundervoll.
Ein hellblauer Himmel erstreckte sich über die kleine Stadt und die
umliegenden Wälder, die unter dem warmen Licht der Herbstsonne
erglühten und leuchteten.
Ein perfekter Tag für eine kleine Wanderung, dachte ich. Wie immer in
diesen herrlichen Tagen hatte ich auch meine Kamera dabei. Ich wollte
soviel wie möglich von diesem Indian Summer einfangen, um mich in den
kommenden grauen Wintertagen an diese bunte Zeit erinnern zu können.
Gerade hatte ich meinen Wagen am Rande des Waldweges geparkt, als ich
eine kleine, flüchtige Bewegung unter den zahllosen gelben Blättern,
die den Waldboden bedeckten, wahrnahm.
Ich sah näher hin und entdeckte einen Vogel, der heftig flatternd und blutverkrustet auf der Erde lag.
Schnell lief ich zu meinem Wagen und holte ein paar Tücher und
eine kleine Schale. Es gelang mir aber nicht, das verletzte, heftig um
sich schlagende Tier hochzuheben und umzubetten. Ein vorübergehender
Wanderer half mir, und jetzt lag es ruhig atmend in seinen Händen.
„Es genießt die Wärme meiner Hände!“ sagte der Mann, der, wie er
mir mitteilte , schon öfters verletzte Vögel gepflegt hatte. Vorsichtig
untersuchte er das Tier.
„Es ist eine ganz junge Taube. Wahrscheinlich ist sie einem Greifvogel angegriffen worden.
Seine Verletzungen sind massiv, ein Flügel ist gebrochen und er hat auch andere Wunden.
Ich glaube, da kann man nichts mehr machen.“
Sie brachten den Vogel an einer andere, besser geschützte Stelle, weg
von dem Fahrweg. Das arme Kerlchen saß nun still und
leise atmend in einer kleinen Mulde in der Nähe des Teichs.
Und dort verließen wir nun, der alte Mann und ich, diese arme Kreatur,
ließen es zurück in seinem erbärmlichen Zustand, in totaler Einsamkeit,
den hungrigen Tieren des Waldes ausgesetzt. Es tat mir unendlich leid,
aber was sollte ich anderes machen?
Ich fuhr noch einige Zeit ziellos durch den Wald und fühlte mich schuldbewusst und grausam.
Vielleicht würde der Mann wiederkommen und den Vogel mit sich nach Hause nehmen und versuchen, ihn gesund zu pflegen.
Mir war jegliche Lust auf Wandern oder Fotografieren vergangen. Immer
wieder tauchte der kleine verletzte Vogel in meinen Gedanken auf.
Es brauchte noch eine lange Zeit, bis ich wieder meine Gedanken
auf andere Dinge richten konnte. Doch ganz vergessen konnte ich dieses
zerzauste, schwer verletzte Tier am Wegesrand nicht.
Später am Tag tat ich dann etwas, was ich tun musste, von dem ich von Anfang wusste, dass ich es tun würde:
Ich kehrte zurück zu der Stelle, wo wir den Vogel zurück gelassen
hatten. Genau an dem gleichen Platz saß er still und aufrecht, so
als ob er auf mich gewartet hätte.
Ganz behutsam setzte ich das Tier in einen kleinen ausgepolsterten
Karton und fuhr mit ihm nach Hause. Mit einem kleinen Löffel bot ich
ihm zu trinken an, was er auch annahm. Sein kleiner Schnabel bewegte
sich von oben nach unten und saugte auf diese Weise das Wasser ein. Er
wiederholte dies einige Mal. Das angebotene Futter rührte er nicht an.
Seinen gebrochenen Flügel versuchte ich zu fixieren, was nicht so
einfach war. Die immer noch blutende Wunde an seiner Brust bestrich ich
mit eine Wundheilsalbe.
Am Ende des Tages saß der kleine Wicht ruhig in seinem neuen
hoffentlich nur vorübergehenden Zuhause. So sehr wünschte ich, dass ich
ihn bald wieder freilassen könnte. Aber davon waren wir in
der jetzigen Situation noch weit entfernt.
In der Nacht ging ich, genau wie den ganzen Tag über, einige Mal
mit einer Taschenlampe an sein Quartier und schaute nach ihm. Es lag
mir so sehr am Herzen, diese junge Taube zu retten.
Aber leider wurde ihr und mir dieser Wunsch nicht erfüllt.
Genau zwei Tage später ist die kleineTaube, die ich inzwischen auf den Namen Fritzchen getauft hatte, für immer eingeschlafen.
Am Morgen des letzten Tages war er total apathisch, wollte nicht
mehr trinken (gefressen hatte er die ganze Zeit über nicht).
Kurz vor seinem Ende um die Mittagszeit hatte ich mich zu im
gesetzt, ihn in meine Hände genommen und gespürt, wie sein kleines Herz
immer langsamer schlug. Seine kleinen schwarzen Augen waren
geschlossen. Ich fühlte, dass er am Ende seines Weges angekommen war.
Nur für einen Augenblick hatte ich ihn danach aus den Augen
gelassen. Als ich zu ihm zurück kam, lag er auf seinem Bauch, sein
Köpfchen hatte er weit von sich gestreckt.
Wie sehr hatte ich diesen Moment gefürchtet. Ich war sehr traurig, dass
ich in seiner letzten Minute nicht bei ihm gewesen war. Aber noch viel
lieber hätte ich ihn putzmunter und lebendig als schönen
stolzen Vogel in herrlichen Formationen mit seinen Artgenossen
fliegend
hoch oben am Himmel gesehen!
Ich hatte Fritzchen in einem schönen großen Wald gefunden.
Dorthin habe ich ihn auch zurückgebracht. Er liegt nun zwischen zwei
wunderschönen Eichen. Es ist still dort, nur das Zwitschern der Vögel
unterbricht diese Stille. Ich glaube, dass er dort mitten in der Natur
gut aufgehoben und zufrieden wäre.
Epilog:
Jedes Leben auf Erden, das von Menschen und Tieren, ist geprägt
von Geburt und Tod, von dem Akt des Entstehens und Vergehens.
Man sagte mir später, dass man schwer verletzte Wildvögel dort liegen
lassen soll, wo man sie findet. Ich hatte nicht danach gehandelt, weil
ich es also zu grausam angesehen hatte, nichts zu tun. Wahrscheinlich
aber habe ich durch mein Handeln und mein Mitleid den Todeskampf
des Vogels um einiges verlängert. Trotzdem würde ich alles wieder so
machen und dem Tier damit eine Chance auf ein glückliches Ende zu
geben.
CopyrightGisela Bradshaw
4. November 2018/update 9/2021