Auf einmal war alles anders.........
Am 21. Januar 2004 um 11.30 Uhr, ist unser Vater gestorben. 61 Jahre
meines Lebens hatte er mich und unsere Familie begleitet, und von einem Augenblick zum
anderen wurde seine Gegenwart zur Vergangenheit.
Am 21. Januar 2004 bestieg ich in Berlin den Zug in die Heimat, beseelt nur
von einem Wunsch, ihn noch einmal umarmen zu können. Die Fahrt
erschien mir ohne Ende. Ich blickte aus dem Zugfenster, sah die
winterliche Landschaft vorbei gleiten, die Wälder und Felder
bedeckt von schneeweißen, glitzernden Raureif.
Ein klarer
Winterhimmel war geschmückt mit wunderbaren, weißem Wolkenbildern,
durchbrochen von dem goldnen Licht der Sonne, das alles
strahlenförmig übergoss. Es schien, als hätten Engel im
Himmel alle Lichter angezündet, zu Ehren meines Vaters, der auf
seiner letzten Reise war.
Endlich kam ich in Frankfurt an, der ersten Etappe meiner langen,
traurigen Reise.
Und hier erwartete mich ein weiteres Wunder:
in dem
großen Schnellimbiss, in dem ich meine Wartezeit auf meinen
Anschlusszug überbrücken wollte und tränenblind
über einer Tasse Kaffee saß, erklang auf einmal herrliche
klassische Musik.
Ich saß ganz still und konnte es nicht fassen:
ich hörte in diesem nüchternen Durchgangslokal wunderbare Musik von Tchaikowsky,
die Sinfonie Nr. 6, die Pathetique, eine Musik so wehmütig und schön, die
alles ausdrückt, was ich in diesem Moment empfand auf dieser
langen Reise zu meinem sterbenden Vater. Wie sehr hatte auch er diese
Musik geliebt! Immer wieder fragte ich mich: Würde ich ihn noch
leben sehen? Würde ich ihn noch einmal umarmen können?
Dann auf der Weiterfahrt durch das romantische Nahetal, dessen
Schönheit mich immer wieder fasziniert, passierte ein
drittes kleines Wunder:
Der Zug hielt in Bad Münster am Stein, diesem malerischen kleinen
Ort mit den hohen Felsen und der hoch über allem schwebenden Burg.
Per Zufall blickte ich in das Abteil eines neben uns haltenden Zuges.
Ich sah einen jungen Mann, der zärtlich den runden Bauch seiner
blutjungen, hübschen Frau streichelte. Sie würde bald
niederkommen und einem neuen kleinen Menschen das Leben schenken.
Diese
Szene erschien mir wie ein Symbol, und ich sah sie in
diesem Ort, den mein Vater immer so gerne besucht hatte.
Schon als Kind war
er hier in einem Kindererholungsheim gewesen, Aufenthalte, von
denen er uns immer wieder begeistert erzählt hatte.
Als alter Mann war er regelmäßig hierher gefahren, um
zusammen mit alten Kriegskameraden zu kuren. Hier hatte er viele
schöne Stunden verbracht, im Kreise seiner alten Freunde und des
Abends bei einer guten Flasche Nahewein.
Nie wieder würde er
hierher kommen. Er lag zuhause in seiner Todesstunde, und hier war
dieses junge Paar, das so lieb zu einander war und das bald
für einen neuen kleinen Menschen verantwortlich sein würde.
Das Neugeborene stand am Anfang seines Lebens, unser Vater
war nach einem langen Leben auf seiner
letzten Reise.
Ich sah alles ganz klar:
Was ich heute erlebte war der Kreislauf des Lebens, Geburt und Tod, werden und Vergehen. Zu
diesem ewigen, unabdingbaren Kreislauf
gehört auch der Tod, so unfassbar und schmerzlich er auch für uns Menschen.
Als ich endlich zu Hause ankam, hatte unser lieber Vater
bereits für immer seine Augen geschlossen. Es gab für uns
keine letzte Umarmung mehr. Wie gerne hätte ich ihn noch
einmal lebend gesehen, nur um ihm sagen zu können, dass ich ihn liebe
und dass jedes böse zwischen uns gefallene Wort mir in der
Seele brennt.
In den folgenden Tagen saßen wir alle mit unserer in Trauer
erstarrten Mutter beisammen und schauten uns alte Fotos an. Wir
durchstöberten alle Alben, die wir fanden. Es war, als wollten wir
mit Gewalt die Uhr zurückdrehen, eintauchen in alte Zeiten, wo wir
noch alle zusammen waren. Irgendwie fühlten wir uns ein
bisschen getröstet durch unser Tun. Die Hauptperson war
natürlich neben unserer trauernden Mutter unser Vater, um den wir
weinten.
In den Nächten, in denen ich schlaflos lag, schrieb ich folgende
Zeilen, in die ich all meinen Schmerz einfliessen liess:
Abschied vom Vater
Auf einmal war er nicht mehr da.
Stille kehrte ein,
und wo sonst seine schöne Stimme erklang,
war Schweigen.
Das Land lag winterlich verschneit
vor unseren Augen,
erstreckte sich bis zum weiten Horizont,
verlor sich im grauweißen diffusen Licht
des hereinbrechenden Abends.
Wir wanderten durch den knirschenden Schnee,
unser warmer Atem schwebte
wie eine kleine Wolke vor uns her.
Irgendwo war jetzt seine Seele,
vielleicht umschwebte sie uns
in diesem Augenblick,
in dem wir so intensiv an ihn dachten.
Das weiße kalte Land
lag schweigend vor uns,
wundervoll in seiner Unberührtheit,
gab uns keine Antwort
auf unsere Fragen.
Er hatte seine letzte Reise angetreten,
auf der wir ihn nicht begleiten konnten.
Ohne ihn,
ohne sein Lachen,
müssen wir weiterwandern
auf unseren Lebenspfaden..
Eines Tages vielleicht
werden wir uns wiedersehen,
in diesem Land,
das allen Lebenden
nicht möglich ist zu betreten.
Seine Seele und
die Kraft unserer Liebe
sind jedoch unvergänglich und fähig,
Zeit und Raum zu überwinden.
Daran glaube ich ganz fest.
Erinnerung
In der Stille der Nacht
denke ich an Dich,
Vater,
und weine um Dich.
Ich sehe Dein Gesicht vor mir,
Deine große Gestalt,
höre Deine schöne Stimme,
Goethes Prometheus zitieren,
diese starken Zeilen,
die Dir so gefielen.
Ein Rebell bist Du nie gewesen,
und doch hast Du den Tod nie gefürchtet.
Ignoriert hast Du ihn,
bist, als Deine Zeit gekommen war,
einfach von uns gegangen.
Nichts von Dir
ist uns geblieben,
außer der Erinnerung an Dich.
Nichts
nahmst Du mit
auf Deine Reise,
ausser dem Bild Deiner geliebten Frau
und dem Blick ihrer Augen.
Plötzlich und unerwartet
Der Tage Hektik
verdrängte langsam
die Gedanken an ihn.
Nur in den Nächten
schien die Zeit stillzustehen.
Die Erinnerung an ihn
brannte in meinem Herzen,
ließ meine Augen feucht werden.
Wie kann es sein,
fragte ich mich,
dass ein Mensch
von heut auf morgen
verschwinden kann,
einfach so,
plötzlich und für immer.
Der Tod ist wahrlich
ein grausamer Meister.
Damokles-Schwert
Wie ein Damokles-Schwert
schwebte Deine Krankheit,
Vater,
über Dir und uns.
Als es dann herabstürzte,
zerschlug es die Wurzeln
unserer Familie
und ließ uns zurück
in brennendem Schmerz.
Mit einem Schlag
riss Dich das Schwert des Todes
aus Deinem langen Leben,
trennte Deine leibliche Hülle
von Geist und Seele.
Wir blieben zurück
an Deiner kalten Seite,
heiße Tränen weinend,
nur noch beseelt von der Hoffnung,
uns irgendwann einmal
wiedersehen zu können.
Ich bin hier
Ich bin hier
Durch Dich,
Vater,
durch Dich
bekam ich
mein Gesicht,
meine Gestalt.
Durch Dich
habe ich gelernt
zu sehen,
zu fühlen,
zu hören.
Vor dem Spiegel
stehe ich,
sehe Dich in mir,
fühle Dich in mir.
Ich bin hier
durch Dich,
Vater,
und Du bist
in mir
solange ich lebe.
«Die Zeit ist ein Fluss, ein ungestümer Strom, der alles fortreißt, jegliches Ding,
nachdem es kaum zum Vorschein gekommen, ist auch schon wieder fortgerissen,
ein anderes wird herbei getragen, aber auch das wird bald verschwinden.«
Zitat von Marc Aurel (Römischer Kaiser (161-80 vor Christus)
Aus « Selbstbetrachtungen «
Idar, 21. Januar 2004/update 10. November 2020
©Gisela Bradshaw