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Abenteuerliche Fotosafari in der  „Verlorenen Heimat“

Fotoalbum

Prolog:

Es sei ein Husarenstück, das sie sich geleistet hätte“, hatte ihr Bruder ziemlich aufgebracht verlautbart, als sie 
müde, durchgefroren aber wohlbehalten von ihrem außergewöhnlichen Sonntagtagsausflug  nach Hause
gekommen war. Über die etwas altmodische  Bezeichnung „Husarenstück“ und seine offensichtliche Mißbilligung ihres Tuns musste
sie lachen,  denn er war eigentlich der Spezialist für Eskapaden, von denen er sich in seinen jugendlichen Jahren 
einige geleistet hatte.


An diesem grauen Volkstrauertag Mitte November hatte es sie mit Macht, ja fast magisch, hinausgezogen in die herbstliche Pracht der umliegenden Wälder. Schon am Tag zuvor hatte sie eine kleine Wanderung gemacht und sich fast berauscht an den glühenden Farben der Eichen und Buchen, die ihren Weg säumten.  Es schien, als stünde der gesamte Wald in Flammen. Rostrot, leuchtendes Gelb, tief dunkles Grün verschmolzen unter der warmen goldenen Herbstsonne in eine unfassbar schöne leuchtende Farbkomposition. An einem kleinen  einsamen Fischweiher spiegelten sich die bunten Bäume im Wasser.  Ohne ihre Kamera  konnte sie an diesem Tag all diese wundervollen Bilder  nur in ihrem Kopf speichern.

Tagsdrauf machte sie sich wieder auf den Weg, dieses Mal mit Kamera. Sie wollte  für die kommenden grauen kalten Wintertage soviel herbstliche Schönheit wie möglich als Bilder mit nach Hause bringen.  Noch standen die Wälder in herrlich bunter Pracht,  die bald in den kommenden Stürmen gnadenlos zerstört würde.

 Hoch oben auf dem Berg gab es ein Gebiet, das sie  immer schon angelockt hatte, das aber für Spaziergänger tabu war.  Es war der Truppenübungsplatz, der dicht bei ihrer Heimatstadt lag.

 „Military area, danger! No trespassing! The Commanding Officer!"

Überall an den Rändern des militärischen Geländes waren diese  großen, weißen Warnschilder aufgestellt.

Dieses Verbot gedachte sie aber,  an diesem Tag zu ignorieren. Zu sehr reizte es sie, dieses Gebiet ein wenig zu erkunden.
So machte sie sich auf den Weg, in ein Gelände, in dem sie wahrscheinlich außer Rehen oder Wildschweinen niemandem begegnen würde.

Insgeheim war sie sich der Gefährlichkeit ihres Tuns bewusst und hielt immer wieder Ausschau nach  Militärfahrzeugen mit Soldaten, die  sie aufgreifen und zum Verlassen des Geländes auffordern würden. Aber weit und breit war nichts zu sehen. So lief sie weiter und weiter, immer stets am Rande des Areals entlang.

Es war  eine seit Jahrzehnten unberührte, sich selbst überlassene  Natur, die jedoch verwundet war. Immer wieder begegneten ihr  Anzeichen, dass diese wundervolle Landschaft  früher militärischen Zwecken gedient hatte und noch immer diente.
Dies war  an den deutlichen Spuren von Panzern und anderem schweren Gerät sehen.  Die Wiesen und Wege waren teilweise stark zerfurcht und unpassierbar. In regelmäßigen Abständen tauchten mit Nummern versehene Mauerblöcke auf, die offensichtlich zur Orientierung dort übender Truppen dienten. Überall säumten Panzersperren ihren Weg. Alles Spuren, die man mit  brutalen, klaffenden  Wunden in einem sonst vor Kraft strotzendem Organismus vergleichen könnte.

Die Topografie der hügeligen Landschaft war äußerst reizvoll. Berge und Täler waren in stetem Wechsel, so dass sich  immer wieder andere phantastische Ausblicke boten.
Üppige in herbstlichem Rostrot,  Goldgelb, tiefdunklem Grün prangende Wälder  öffneten sich zu leuchtend grünen Wiesen, die  sich wiederum bergabwärts mit  anderen bunten Waldstücken vereinigten. Alles wirkte wie ein überdimensionales natürliches Puzzle.

Ab und zu schaute sie zurück, um sich den Weg fest einzuprägen. Immer wieder fotografierte sie neue Baumgruppen am Wegesrand, die ihr durch besonders bunte Färbung ins Auge stachen.  Sie waren von einer solchen Schönheit, die jeder  Maler sicher gerne als Motiv genommen hätte. Keiner von ihnen hätte es aber so  perfekt in ein Gemälde umgesetzen können,  wie es die Natur hier auf einzigartige Weise tat.

Sie passierte eine Allee von Bäumen, deren bunte Blätter bereits  Opfer der  kalten  Winde waren.  Malerisch hatten sie sich  unter dem Baumstamm zu einem bunten Berg aufgehäuft, so als möchten sie gerne vor ihrerer totalen Auflösung noch eine kleine Weile bei ihrem Baum verweilen.

Sie wanderte langsam die alte Panzerstraße entlang. Zwischen buntgefärbten Bäumen sah sie ganz von weitem ihre kleine Stadt, die wie ein Nest in die  hügelige Landschaft  geschmiegt war.  Sie  war nur wenige Kilometer entfernt von ihr,  und trotzdem vermittelte ihr das stille, menschenleere Land das merkwürdige Gefühl, auf einem anderen Planeten zu sein.

Das war es ja auch in gewissem Sinn: ein ehemals bewohntes  Land, das ab 1937  kurz  vor Beginn des 2. Weltkriegs von der damaligen Regierung  zwangsgeräumt  und in ein Militärübungsgelände umgebaut wurde, wo deutsche Soldaten für  den  (insgeheim) geplanten, bald  bevorstehenden Krieg trainieren sollten.

14 Dörfer und Weiler wurden damals  mir-nichts-dir nichts dem Erdboden gleichgemacht, alle ehemaligen Bewohner, die meisten gegen ihren Willen, umgesiedelt, teilweise sehr weit weg von ihrer ursprünglichen Heimat. Alle Dörfer wurden zu Wüstungen,  von den ursprünglichen schönen kleinen Kirchen, Häusern und  Gärten  ist ausser verfallenem Gemäuer nichts mehr geblieben  Die Menschen, die einst dort gelebt haben und  die heute noch am Leben sind, nannten  ihre alte Heimat  liebevoll "Unsere Verlorene Heimat".

Während des Krieges diente das 11 600 Hektar große Gelände unter Leitung der SS auch zur Unterbringung von  Kriegsgefangenen und anderen Menschen, die sich bei Hitler und Konsorten unbeliebt gemacht hatten. Das Schicksal dieser armen Leute war von unbeschreiblicher Grausamkeit. Sie wurden entweder  zu mörderischer Zwangsarbeit abkommandiert, exekutiert oder sie verhungerten. Kaum jemand   von ihnen überlebte.

In diesem Moment befand sie sich in unmittelbarer Nähe zu dem  damaligen schrecklichen Geschehen.  Traurig wanderten ihre Gedanken  zu den vielen  namenlosen Opfern, die hier  eine  Hölle gefunden hatten,  aus der es für sie kein Ausweg gab.


Der Himmel hellte sich  etwas auf, und eine zaghafte Sonne  breitete,
teilweise verdeckt von grauen Nebelschwaden,  ihren  warmen Schein  über die Landschaft, brachte diese zum Glühen.  Jetzt hatte sie das richtige Licht für ihre Bilder. Ein wunderbares Fotomotiv nach anderen tauchte auf. 

Über all dem hatte sie fast Zeit und Raum vergessen. So langsam sollte ich zurückgehen, dachte sie.  Schnell machte sie noch ein paar  Aufnahmen und  kehrte um. Von oben blickte sie  auf die  ihr gegenüber liegende, lang gezogene Straße, über die  sie gekommen war und  die sie  an den seitlich entlang laufenden Panzersperren gut identifizieren konnte. 
  Sie war ganz sicher, dass sie den Rückweg ohne Probleme finden würde.

Zielstrebig lief sie los. Nach einer Weile jedoch kam ihr der  Weg, der eigentlich nur geradeaus verlaufen müsste,  fremd vor. Auch  konnte sie sich nicht darin erinnern, dass er von tiefen Löchern durchzogen und mit Wassertümpeln gefüllt war.

Ob sie wohl  falsch abgebogen war?  Ihre Blicke schweiften prüfend über das weite Land. Sie  suchte die Stelle, wo es eigentlich hätte bergab gehen müssen.   Aber  je länger sie nachdachte und suchte,  desto unsicherer wurde sie.

In der Zwischenzeit war die Sonne  untergegangen, und ein kühler Wind wehte über das Plateau.
Auf einmal wurde ihr klar: Sie hatte sich verirrt!  In einem Gelände, das menschenleer und riesengroß war.

Per Handy versuchte sie nochmals, Freunde zu kontaktieren. Niemand nahm ab.

Aus dem Waldstück zu ihrer Rechten tauchte plötzlich  wie aus dem Nichts eine Gruppe Rehe auf  und war sofort wieder verschwunden.
 
Langsam lief sie weiter. Ihre Phantasie fing fieberhaft an zu arbeiten. Was könnte ihr alles passieren hier oben ganz allein?  Sie sah sich hungrig und fast erfroren unter einem Baum liegen. Welch  hoher Preis für ihre Sorglosigkeit!

Versunken in  solch düsteren Gedanken war sie weitergelaufen. Plötzlich zu ihrer Rechten – wie eine Fata Morgana in der Wüste -  erblickte sie eine Notrufsäule.

Klopfenden Herzens trat sie näher. Zaghaft öffnete sie die Klappe und wartete.

Eine männliche Stimme meldete sich:

„Hallo, wer ist da? Was kann ich für sie tun?“

Es gab also doch  Menschen irgendwo in ihrer  Nähe. Vor Aufregung konnte sie fast sprechen:

„Ich  habe mich verirrt. Können Sie mir helfen. Ich bin allein hier unterwegs.“


„Laut meinem Computer befinden sie sich  an Säule Nr. 9“, sagte der Mann  und bat um Bestätigung.
 
Sie möge  warten, er würde  sie noch einmal anrufen. Sie wartete ungeduldig, zitternd vor Kälte.
Endlich kam sein Rückruf.
 
Ich schicke Ihnen einen Wagen.  Bitte bleiben Sie da, wo Sie jetzt sind, in einer halben Stunde ca. wird er da sein.“

Seine Worte klangen wie Engelsstimmen in ihren Ohren. Jetzt auf einmal erschien ihr diese Situation wie ein böser Traum, aus dem sie jäh erwacht war. Jetzt wird alles gut, dachte sie aufatmend.
Sozusagen  im letzten Moment hatte sie diese Notrufsäule gefunden, etwas später und bei fortgeschrittenener  Dunkelheit wäre ihre Lage aussichtslos gewesen.

Aufmerksam lauschte sie in die kalte Stille. Plötzlich wurde diese jäh  durch das  das Klappern eines  sich nähernden  Fahrzeugs unterbrochen. Ihre Rettung nahte – in Form eines  roten Feuerwehrautos mit zwei jungen uniformierten Männern an Bord, die sofort aus dem Wagen heraussprangen, um sie in Augenschein zu nehmen und zu begrüßen.

Auf einer riesengroßen Geländerkarte lokalisierten die Männer  den Standpunkt ihres Autos. Dann ratterten und holperten sie los. Bereits  von Weitem sah sie ihr rotes Auto verlassen auf einem Feldweg stehen. Erleichtert atmete sie auf. Sie war jetzt in Sicherheit.

Überschwänglich bedankte sie sich bei ihren beiden Rettern, die sie zum Schluss freundlich, aber bestimmt davor warnten, noch einmal diesen   gefährlichen Ort zu betreten, auch wenn die Fotomotive dort noch so reizvoll und verführerisch sein mögen.

Ihr Abenteuer  war  jedoch hier noch nicht zu Ende, so als ob sie noch nicht genug davon gehabt hätte:

Das  Auto, das sie noch nie vorher im Stich gelassen hatte, tat dies just  in diesem prekären Moment. 
 
Zunächst funktionierte ihr Schlüssel nicht. Dann nach mehrmaligem Drücken  öffneten sich wie ein Wunder die Türen.  Jetzt nur noch starten, dachte sie und eine  halbe Stunde später ware sie zuhause. 

Sie ließ  den Motor an und ihr Herzschlag setzte fast aus .............keine Reaktion!  Die Batterie war tot.

Hilfesuchend schaute sie sich um. Aber außer ihr gab es weit und breit niemanden mehr hier oben auf dem Berg.

Der Rest ist schnell erzählt: Eine zu Hilfe gerufene Freundin kam herbeigeeilt und überbrückte fachgerecht ihre leere Batterie.  Dann  endlich –  insgesamt war sie einen halben Tag  unterwegs gewesen - ,  stand ihrer Heimfahrt nichts mehr im Wege.

Noch nie zuvor hatte sie ihre heimelig warme Wohnung so paradiesisch schön empfunden, wie in dem Moment,  als sie müde, hungrig und durchgefroren in ihrem Heim ankam.


Epilog

 Zu den ausgelöschten Dörfern:
 
»Alles im Leben ist nur für eine  kurze Spanne Zeit.
Mag alles Gewesene unwiederbringlich und unwiederholbar sein,
aus seiner Ferne blickt es doch voll Trost und Mahnung herüber:

Trost, dass noch jedes Leid vorüberging, Mahnung, dass auch die
Schmerzen und Hemmungen des Heute  gelebt, gelitten, gekostet
sein wollen, dasss auch sie Frucht tragen werden.»

Zitat von Hermann Hesse




Hier ist das  wunderbare Lied von Van Morrison "Sense of wonder", das perfekt zu dieser Geschichte  passt. Es drückt all die Gefühle aus, die sie auf ihrer verrückten Fotosafari angesichts der Explosion von Farben in der Natur empfunden hatte.


(Mehr zur Geschichte dieser Gegend  und  sehr lesenswert: Essay von Uwe Anhäuser.
http://gegenwind-im-westrich.de/?p=die-verlorene-heimat-auf-dem-truppenuebungsplatz-baumholder)


Copyright2016 Gisela Bradshaw
Idar-Oberstein, im Dezember 2016/update 2/2019